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Guten Abend an alle Kunstfreunde, Freunde des Stuttgarter Kunstvereins
Sie haben es bereits auf der Einladung gelesen, heute abend obliegt mir die Ehre, Nachlese zu halten. Nachlese auf den Stuttgart-Aufenthalt des 4. Stipendiaten, den der Stuttgarter Kunstverein mit Unterstützung der Abteilung für Internationale Beziehungen im Rathaus ins Ländle holen konnte. Igor Donij, aus Samara, der jüngsten Partnerstadt Stuttgarts.
Wir haben mit dem inhaltsschwangeren Wort "Nachlese" begonnen, was heißt das? Wenn man darüber nachdenkt, wird einem klar, dass es gar nicht so einfach ist, von einer Nachlese zu sprechen, sie zu definieren.
Wollen wir Nachlese halten, im Sinne einer nachfolgenden Überprüfung? Wohl eher nicht. Ein Nachtrag, vielleicht? Da liegt der Gedanke, etwas hinterher anzuschauen, Revue passieren lassen und damit verstehen wollen, es wirklich "nach zu lesen", doch näher. Am besten gefällt mir aber der Wortsinn der Nach-Lese als eine späte, oder verschobene Ernte, eine hinterher folgende Lese.

Also, was ist seit Anfang März, seitdem Igor Donij in Stuttgart weilt, geschehen, was hat der Aufenthalt gebracht? Doch, wo fängt man, wo hört man auf, in diesem Fall? Bei Sprachproblemen, Mentalitätsunterschieden, bei allgemeinen Eindrücken, die Igor Donij in Stuttgart aufgenommen hat oder bei der künstlerischen Produktion, die in dieser Zeit des Kennenlernens einer neuen Stadt und Umgebung von statten ging?

Nun, viele Fragen hierzu kann nur der Künstler selbst beantworten. Was aber auf jeden Fall deutlich wird, wenn Sie sich hier in den Räumen umschauen, - Igor Donij hat eine reichliche Ernte eingefahren, während der Zeit, die er im Talkessel des Künstlerhauses Leonhardstraße und im Atelier an der Akademie auf der Höhe verbracht hat. In den sechs Wochen sind ca. zwanzig Bilder entstanden, von denen nun ein großer Teil heute und morgen zu sehen sind. Zu dieser Ernte gehören auch die Einladungskarten, die sie bekommen haben. Sie sind allesamt Unikate, einzeln vom Künstler am Computer hier erstellt, numeriert und signiert.

Doch haben diese Arbeiten nun etwas mit dem Einfluss Stuttgarts zu tun? Ja und nein muss hier wohl die kryptische Antwort lauten.
Formal gesehen hat sich auf den ersten Blick für den aus dem russischen Kulturkreis kommenden Künstler nichts geändert. Zunächst - dafür sind sechs Wochen eine zu kurze Zeitspanne. Dennoch hängt die Arbeitsweise Igor Donijs eng mit seinem Aufenthalt, mit der Reise, mit seinen Impressionen zusammen.

Wie gesagt, Donij kommt aus einem anderen Land und kennt - v.a. auch als Hochschullehrer in Samara für klassische Malerei - die russische Bildertradition, die zum einen auf  Gegenständlichkeit, Landschaften, Figuration fußt, zum anderen aber - vor Stalin - eine ganz eigene Richtung des Konstruktivismus hervorgebracht hat. Man darf nicht vergessen, je weiter die Künstler vom Dunstkreis Moskaus, der Zentrale der sozialistischen Staatskunst entfernt waren, um so mehr Freiheit hatten sie. Und so hat sich Donij in gewisser Weise seit den v.a. 90ern vom Akademismus befreit. Weder vermißt er seine Leinwände logisch konstruktiv und transformiert sie in rein geometrische Elemente, noch arbeitet er ganz frei, denn immer wieder sind Anklänge, Spuren der Figuration wahrzunehmen, für den, der nachspürt.

Der Künstler legt seine Bilder in vielen Öl-Lasuren an. Er packt so viele Schichten aufeinander, dass der Anfang der Komposition, die Grundidee nur noch anhand von Oberflächenstrukturen, anhand vom Durchscheinen hellerer oder dunklerer Pigmentschlieren ersichtlich ist. Permanent überarbeitet er, nimmt weg, kratzt, wischt, lässt Strukturen stehen und überlagert sie wieder mit einer neuen Farbschicht. So entsteht eine fast monochrom anmutende, in einem Farbton variierte, dichte Oberfläche, die fast nichts mehr von der Leinwand erahnen lässt. Und darum ist das, was allen Arbeiten Donijs eigen ist, ihr Zusammenspiel mit dem Licht, ihre Reaktion auf wechselnde Beleuchtungseinflüsse. Die Arbeiten sehen auf den ersten Blick dunkel aus und scheinen die Strahlen zu absorbieren. Doch nach genauem Hinsehen, nach Standortwechsel werden die für die Komposition immanenten Strukturen deutlich und die darunterliegenden Farblagen schaufeln sich langsam an die Oberfläche empor.

Die Bilder "Komposition I - III" zeigen darum die Anfänge, d.h. die Grundstrukturen von Igor Donijs Bildern. Sie sind leicht, teilweise lokalfarbig, auf die Leinwand gesetzt; zwar bereits in stadtplanartige Gefüge organisiert, ja regelrecht angelegt, aber dennoch offen. Nach diesem Stadium beginnt der Künstler seine Arbeiten weiter mit vielen Lasuren in dem für ihn momentan typischen Farbspektrum Braun, Beige, Rostrot zu überschichten. Und kommt zu einem Stufe, die er "Paralelle Realitäten I - III" nennt. Hier erreicht er durch die Dichtheit der Farblasuren eine fast glattlederartige, reflektierenden Oberfläche.

Gerade an diesen Beispielen wird ein kleiner, sehr interessanter Konflikt deutlich. Für Igor sind die genannten Beispiele eigentlich noch nicht fertig. Jedoch für uns vielleicht schon. Dagegen wirken seine abgeschlossenen Arbeiten ungemein dicht, beinahe wie versiegelt. Als ob er vom Horror vacui geritten worden wäre. Und hier sind wir schon in einem der spannenden Dispute des Künstlers mit einer anderen Sichtweise bezüglich seiner oder anderer Kunstwerke, die er während seines Aufenthaltes erlebt hat. Auch wenn sie für ihn nicht vollendet sind, war er einverstanden, dem Publikum seine Arbeiten in verschiedenen Durchgangsstadien zu präsentieren, sich der Auseinandersetzung zu stellen. Darum mag man Donijs Bilder an diesem Ort auch als Beispiele für Abläufe verstehen, für das Durchwandern von Stadien, die nebeneinander laufenden Schienen der Wirklichkeit, die letztendlich zur Geschichte oder zu Geschichten werden.

Aber trotz ihrer materiellen Überfülle zeichnen sich Donijs fertige Arbeiten in gewisser Weise auch durch archaische Simplizität und Metaphorik aus. Fast so als würden sie alte, in Stein geritzte oder in Leder gegerbte Botschaften, urzeitliche Kalligraphien übermitteln. Oder, um mit einem modernen Chargon den Sprung in die Gegenwart zu schaffen: als würde man mit der Concorde eine Überflugsituation mit Überschallgeschwindigkeit erleben. Die Farben der künstlerischen Landkarte schieben sich zusammen, werden eins, die Lichter schwinden so schnell wie sie gekommen sind, Himmel und Erde und das Dazwischen öffnen sich kurz, um sofort darauf wieder ihre Geheimnisse zu bergen - quasi ein Flug durch die Zeit.

Und damit wird ein weiteres wichtiges Moment in Donijs Arbeiten deutlich Das ist der Aspekt der Zeit, ihrer Zustände, sowie der darinenthaltenen Ruhe und Bewegung. Die Zeit ist hier nicht nur als Vergangenheit, als Chronologie zu interpretieren, sondern auch als Prozess, als Vorgang, als Werden, das irgendwann wie eine megalithische Skulptur mit Patina, mit Moos, mit Natur, mit Mythen überdeckt sein wird.

Dazu muss man einige Fakten aus Donijs Lebenslauf kennen. Bevor Igor 1993 nach Samara zog, lebte er in Magadan, einer Stadt, die an der ostasiatischen Küste der GUS liegt, genauer an der Bucht, die sich nordöstlich der an Japan anschließenden Insel Sachalin befindet. Von dort aus ist es nicht weit zur Beringsee und in ein Gebiet im äußersten Norden des Kontinents, das sich Tschukotka nennt. Donij unternahm in dieser Magadan-Zeit häufig Reisen in die Tschukotkaregion, um die Lebensweise, die Natur und die dort ansässigen Menschen kennenzulernen. Was Igor dort vorfand, war ein eingeborenes Indianervolk mit Eskimokultur, das noch heute wie vor tausend Jahren lebt. Der Natur verbunden, in Zelten und Hütten, Seelöwen jagend zur Nahrungsversorgung, ihrer Häute wegen. Die Häute werden zum Trocknen aufgespannt, um sie später zusammen mit Hölzern zum Bootsbau zu verwenden. Wenn Sie also das Bild Tschukotka-Zeichen, Seelöwenhaut anschauen, so ist es nicht nur eine Erinnerung an den fernen Norden. Die planenartige ausgespannte Haut im patiniert organischen, schmutzig grünen Kleid ist eine Auseinandersetzung mit den alten Traditionen, Riten und Symbolen des Naturvolks. So hat Donij immer noch viele der geheimnisvollen Tierzeichen vor seinem geistigen Auge, deren Symbolik den Tschukotka-Völkern geläufig ist.

Das sind Zeichen, die mit dem Kreislauf des Lebens, dem Überleben, dem Ineinandergreifen zwischen Diesseits und Jenseits zusammenhängen. Donij hat in diesen archaischen Schamanen-Kulturen eine große Weisheit, wie er es bezeichnet, um die Dinge des Lebens und den Tod vorgefunden. Die Völker des fernen Nordens glauben z.B., dass ihre Toten nicht einfach weg sind, sondern immer in ihrer Nähe, um den Nachfahren zu helfen. Sie begegnen ihnen in unterschiedlichsten Visionen. So gibt es Berichte von Gesprächen, die Leute mitangehört haben, obwohl die Sprechenden schon längst tot waren bzw. die Gespräche schon vor vielen Jahren geführt wurden. Auch Donij hat Situationen erlebt, Dinge gefühlt, dichte Atmosphären einer als "schlecht bezeichneten" Zone, die er vorher noch nicht kannte, - eine Stimmung der extremen Anspannung, Hypersensibilität, der reinen Intuition.

Im Tschukotka gibt es viele Menhire aus paläonthologischer Zeit, die mit Zeichen bedeckt sind. Eine Erinnerung, die in der Arbeit Totemstein zum Tragen kommt. Dunkel, mystisch gehalten, mit undefinierbaren Krakeln überzogen, kommen und gehen die Symbole je nach Lichteinfall oder Blickwinkel. Eine Erfahrung, die wohl auch in der Arbeit "Pyramide" auftaucht. Auch wenn das nur einen Aspekt der "Pyramide" abdeckt. Sie kann durchaus als Kopf, als befüllbares Gefäß, als steinernes Gehäuse für Assoziationen gewertet werden.

In diesen Zusammenhang gehört, dass Igor Donij ein Stein-Fan ist. Steine sind etwas seit Anbeginn der Welt Geformtes, Gewachsenes, das den Künstler fasziniert. Er besitzt eine große Diasammlung mit Steinstrukturen, die für ihn genauso eine Quelle der Inspiration darstellen wie die konkrete Realität.

Doch, was hat das mit Stuttgart zu tun? Ist das nun die Nachlese auf die Vor-Stuttgart-Periode? Ja und nein, heißt es an dieser Stelle wiederum. Denn schließlich haben sich diese Tschukotka-Mitbringsel in Stuttgart durchgesetzt und in Form von Bildern manifestiert. Hier sind wir bei einer interessanten Facette von Donijs Arbeiten, der gleichzeitig meiner Meinung nach mit einem Aspekt seines Stipendiatenaufenthalts zusammengeht. So sagte Igor, dass das, was ihn an Stuttgart besonders faszinierte, die Häuser, v.a. die alten Häuser gewesen seien. Stuttgart sei voller Geschichte, Schlösser, Burgen, Zeugnisse der Zeit. So etwas gäbe es in Russland nicht in dieser Art, viele Dinge seien zerstört oder erst ca. 300 Jahre alt. Hier sei er quasi umrundet von alten Zeichen, von Überliefertern, Zeugen des Gestern, das Stück für Stück, Schicht für Schicht in das Heute fließt, und vom Morgen irgendwann überlagert werden wird.

Eine Impression, die für die Arbeit "U7" nicht ohne Bedeutung ist. Donji ist mit der U7, der Stadtbahn, immer auf den Killesberg ins Atelier gefahren. Die dunkel tiefgründigen Wülste, Ecken, Kanten, Schachtelungen, Überschneidungen und Perspektivwechsel schildern nicht nur Architektur und Dachformationen im Abendglühen, sondern mögen auch Sinnbilder für Blicke, Spiegelungen, Reflexe, Assoziationen einer schnellen vorüberziehenden Begegnung mit Geschichte sein. Vielleicht auch Lichtblitze in der Dunkelheit des Alls. Während "U7" von den Ereignissen, den Entdeckungen einer vorbeischwebenden Stadtlandschaft inspiriert ist, erzählen März und April mit Farbsymbolik eher von Atmosphärischem. Als Igor in Stuttgart im März ankam war es noch ziemlich kalt und blau. Im April jedoch entdeckte er die Stuttgarter Triebe, es begann zu keimen und blühen, die Welt leuchtete grün durch die vielen Ebenen der Gegenwart.

Hier schließt sich der Kreis der Nachlese. Die Geschichte des fernen Nordens, die Verbindung der Vorfahren, der Kontakt zum Kosmos ist in Stuttgart Historie hervorgekrochen. Ob als Zeichen aus einer anderen Welt? Wer weiß, auf jeden Fall, als Zeichen der Zeit. Denn damit wird deutlich, dass in einer sich globalisierenden Welt v.a. Austausch und Kommunikation wichtig sind. Nicht nur der Gastgeber Stuttgart wirkt, sondern auch die Zeichen, Eindrücke anderer Welten fließen hierher, um sich zu enthüllen, ob aus Prä- oder Posthistorischen  Zeiten. Es wird spannend sein, den weiteren Weg Igor Donijs zu beobachten. Wenn er in der Fremde das Bild von Stuttgart entfaltet.

Petra Mostbacher-Dix

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